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C. de Silva

Krankenpfleger, Pflegedienstleiter, Pflegewissenschaftler (MScN)

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Projekteinsatz in Sibirien 1997

"Steppe, hunderte Quadratkilometer nichts als Steppe, braune, vom regenlosen Sommer ausgedörrte Erde, eine grenzenlose Weite, beeindruckend und beängstigend zugleich, ein paar kleine Birkenwäldchen ...

...und endlose Straßen, die immer geradeaus gehen, kilometerlang ohne jede Abwechslung - so wird man von der Kulundasteppe in Empfang genommen."

Kühnel, Claudia und Brezina, Torsten

Moskauer Deutsche Zeitung, April 1998, Seite 12

Ein Projekteinsatz in Sibirien ?!

Im Rahmen des Studiums Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke, absolvieren die Studierenden mindestens zwei Auslandseinsätze. Von einem dieser Auslandseinsätze möchte ich nachfolgend berichten. 1997 hatte ich die Gelegenheit, im Rahmen einer Fördermaßnahme des Bundesministerium des Inneren im Bereich der humanitären Hilfe an einem Entwicklungsprojekt in der Altai-Region / Süd-West Sibirien / Russische Föderation (PN.: 96 9004.3-00121 / Halek-Schnepp-Silva) teilzunehmen. Die Projektaktivität bezog sich auf die häuslichen und die stationären Versorgungsproblematiken von pflege- und hilfebedürftigen älteren Menschen in der genannten Projektregion und fand in der Zeit vom 13.07.1997 bis zum 09.09.1997 statt. Logistisch wurden wir in Deutschland von der DEULA/Freren (Dank an Frau Garreis) und in Sibirien von den Mitarbeitern der Entwicklungsgesellschaft Halbstadt (Dank hier insbesondere Herrn Petschik) unterstützt.

Im Rahmen dieser Darstellung werde ich sowohl den Projekteinsatz kurz skizzieren als auch ergänzend private Tagebuchaufzeichnungen und Fotos verwenden. Ich hoffe, dass durch diese Mischform dem Leser viel eher die Möglichkeit gegeben wird, sich ein „Bild" von diesem Projekteinsatz zu machen.

Einführung

Die Bundesrepublik Deutschland bemüht sich über das Bundesministerium des Inneren und die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH die Lebensbedingungen der deutschen Minderheit in Westsibirien zu verbessern. In der Gegend des Altaiski Krai, ca. 400 Kilometer südwestlich von Novosibirsk, im Deutschen Nationalen Rayon (DNR), konnten durch das Wirken der Entwicklungsgesellschaft Halbstadt (EGH) und der Siedlungsgesellschaft "Die Brücke", die Lebensbedingungen in den letzten Jahren positiv beeinflusst werden.

Neben der Verbesserung der Infrastruktur im DNR, der Schaffung von Arbeitsplätzen, dem Bau einer Molkerei, eines Schlachthofes, eines Mühlenbetriebes und den Wohnungsbauprojekten zeigte sich aber sehr schnell, dass darüber hinaus auch soziale, pädagogische und gesundheitsbezogene Fragestellungen nicht vernachlässigt werden dürfen. Es wurde erkannt, dass auch diese Bereiche einen wichtigen Stellenwert für die Entwicklung und Sicherstellung geeigneter Lebensbedingungen einnehmen.

Projektauftrag

Durch vorangegangene Projekte in der Region (Schnepp 1996; 1997) wurde erkennbar, dass aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen, und hier vor allem aufgrund der Migrationsbewegungen der russlanddeutschen Bevölkerung und der Transitionsprozesse in der russischen Gesellschaft, Probleme in der Versorgung der älteren Menschen zu beobachten waren. Daraus abgeleitet wurden für das von uns durchzuführende Projekt folgende Teilaufgaben:

Projektteam/Projektzeit

Analyse der Versorgungs-/Pflegesituation von älteren Menschen im DNR und den angrenzenden Rayons

Für die Analyse standen uns die ersten zwei Wochen des Aufenthaltes zur Verfügung. Als zu beobachtende Felder waren die häusliche Umgebung von pflege- bzw. hilfebedürftigen älteren Menschen, Veteranenheime und Krankenhäuser vorgesehen. In den Beobachtungsfeldern selbst richteten wir unser Augenmerk auf die jeweiligen älteren Menschen, die "sozianie rabotniki" (=Sozialarbeiterinnen), Krankenschwestern und sonstige Pflegende, wozu auch die pflegenden Angehörigen zählten.

Um die Ist-Situation in der pflegerischen Versorgung erfassen und evtl. vorhandene Probleme erkennen zu können, wurden neben gezielten Beobachtungen im Handlungsfeld auch Gespräche und Interviews geführt.


Tagebucheintrag 15.07.1997 (in einem Veteranenheim)

Gegen 15:00 sind wir am Veteranenheim. Es liegt vielleicht ca. 10-15 Minuten zu Fuß von unserer Unterkunft in Jarovoje. Wir warten einige Zeit auf die Leiterin (sie ist gerade mit einem Neurologen bei zwei Bewohnerinnen). Nach einem kurzen „beschnuppern" werden wir freundlich aufgenommen. Wir beschreiben worum es uns geht und mit wem wir gerne alles Kontakt hätten (Leiterin, Bewohner, Mitarbeiterin). Sie lässt sich die Gelegenheit nicht nehmen und zeigt uns „ihr" Heim. Dort leben 33 Veteranen (Frauen, Männer und ein Ehepaar). Das Heim ist in 6 Wohngruppen (Gemeinschaften?!) aufgeteilt. Jeder Bewohner hat sein Zimmer. Gemeinsam hat jede Gruppe eine Küche (mit 2 Herden) und ein Bad/Toilette. (Uns kommt dabei der Gedanke, dass bei uns so junge Menschen oft in WG´s leben). Allerdings muss man einschränkend sagen, dass ein Großteil der hier lebenden Veteranen sich weitestgehend selbst versorgen kann, incl. der Mahlzeitenversorgung. Nur ein paar sind wirklich im „größeren Umfang" auf Hilfe angewiesen.

Danach haben wir Kontakt mit einer (bzw. der!) Krankenschwester in diesem Veteranenheim.

Zu ihr ins Behandlungszimmer kommen einige der älteren Damen zum Blutdruckmessen.

Wir erfahren von diesem täglichen Ritual, und von dem kommunikativen Zweck. Danach kommen wir mit ihr ins Gespräch und lassen uns Informationen über ihre Aufgaben hier im Veteranenheim geben.

Als nächstes suchen wir die „sozialnie rabotniki" auf. Sie ist 24 Jahre alt und seit Januar hier beschäftigt. Sie kocht gerade für eine Bewohnerin das Mittagessen. Heute gibt es einen Eintopf. Die Bewohnerin hatte ihn sich gewünscht.

Auch von ihr erfahren wir etwas über ihre Aufgaben. Unweigerlich kommen mir Gedanken zum Modul „Haushalten und Pflegen" im letzten Semester.

„sozialnie rabotniki" (li.) mit Übersetzerin Natascha.

Mit einem „da sswjidanjija" Verabschieden wir uns bis zum nächsten Tag und sehen beim Abschied noch ein paar ältere „Veteranen" vorm Haus sitzen.

Tagebucheintrag 25.07.1997 (in einem Veteranenheim)

Unsere Fahrt führt uns heute in ein Altenheim in Podsosnowo mit 7 BewohnerInnen. Hinter dem Haus (wie sollte es auch anders sein) befindet sich auf der rückwärtigen Seite, der zu bewirtschaftende Garten. Jeder Bewohner hat hier seine Parzelle. Zur Straße hin befindet sich ein schöner alter und Schatten spendender Baumbestand. Von der dortigen Mitarbeiterin werden wir durch das Haus geführt. Zu jedem Bewohner dürfen - nein müssen wir. Jede Bewohnerin wollte uns ihr Zimmer zeigen, eine war schon ganz ungeduldig. Neben 5 einzelnen Damen lebt dort auch ein Ehepaar (sie ist gerade am Kochen). Viele der Bewohner verstehen / sprechen etwas Deutsch - mit Dialekt. Klingt irgendwie vertraut und doch ein wenig ungewohnt.

Da sitzt jemand, der noch nie in Deutschland war, deren Vorfahren vor 200 Jahren nach Russland ausgewandert sind, der auch noch nicht einmal weiß, aus welcher Region in Deutschland er stammt, und spricht Deutsch mit einem herrlichen regionalen Akzent (z.B.: Schwäbisch oder Plattdeutsch).

In den faltenreichen Gesichtern und in den (oftmals) müden Augen spiegelt sich eine Lebensgeschichte wieder, wie wir sie uns oftmals gar nicht vorstellen können.

Und umgekehrt sind wir die „Exoten" aus der niemals gesehenen „Heimat". Es sind oftmals nur ein paar Sätze die wir miteinander wechseln - und trotzdem - ich fühle mich ihnen sehr nah. Klingt zwar ein wenig seltsam, spiegelt aber meine Empfindung sehr gut wieder.

Tagebucheintrag 17.07.1997 (in einer Klinik)

Unser heutiges Ziel ist eine Klinik in Jarovoje. Gegen 9:00 werden wir dort vom stellv. med. Leiter empfangen. Knapp 2 Stunden steht er uns Rede und Antwort und begleitet uns durch die Klinik. Wir sehen u.a. eine Frau mit Schlaganfall auf der „Intensiveinheit". Sie liegt wie ein „Schluck Wasser in der Kurve" im Bett, ein Harnableitungsschlauch mündet in eine offene Flasche. Eine „sanitarki" (ungelernte Mitarbeiterin) gibt der Patientin etwas in liegender Position zu trinken. Die Frau aspiriert. Arzt und Krankenschwester stehen dabei, beachten diese Situation aber nicht weiter. Beim Gespräch mit einer weiteren „sanitarki" bleibt der ärztliche Leiter und die Oberschwester der Intensiveinheit dabei. Das Gespräch mit ihr ist sichtlich davon beeinflusst, denn die beiden schalten sich immer wieder mit ins Gespräch ein.

Tagebucheintrag 26.07.1997 (in einer Klinik)

Nach einem üppigen Frühstück stellen wir uns um kurz vor halb zehn in die Morgensonne. Ein paar Minuten später kommt Philip und fährt mit uns ins Krankenhaus nach Kusak. Dort nimmt sich die „Hauptschwester" Anna Richter für uns ausgiebig Zeit. Wir haben Gelegenheit auf den stationären Bereichen zu sein, uns dort zu orientieren und den (sehr wenigen) Pflegenden bei ihren Handlungen zuzusehen. Auf dem einen Bereich sind 40 Patienten (überwiegend 4/5/6 Bett-Zimmer). Hier sind chirurgische (Frauen und Männer) und gynäkologische PatientInnen. Auf der anderen Etage sind der Inneren Medizin und der Neurologie ebenfalls 40 Betten zugeordnet. Außerdem gibt es noch einen Kinderbereich mit 30 Betten. Auf jeder Station gibt es auch jeweils einen Speiseraum für alle gehfähigen Patienten. Die Patientenzimmer sind sehr spartanisch eingerichtet und alles ist sehr beengt. Da die Pflegenden eher als Arztassistenz fungieren, helfen Angehörige bei der Grundversorgung der Patienten. Dort wo keine Angehörigen zu Besuch kommen, versuchen sich die Patienten untereinander zu helfen. Patientenbetten wie wir sie normalerweise von uns kennen sind hier nur vereinzelt zu sehen, ansonsten handelt es sich fast ausschließlich um Pritschenbetten.

Auch die „Intensiveinheit" wird uns gezeigt.

Neben dem Krankenhaus ist ein Neubautrakt zu erkennen. Es wird hier aber schon seit einem Jahr nicht mehr weitergebaut. Auf die Frage warum nicht, gibt man uns folgende Antwort:

„Im Vorfeld wurde vereinbart, dass der Neubautrakt zur Hälfte von deutscher Seite und zur anderen Hälfte von russischer Seite finanziert werden soll.

Daraufhin wurden von deutscher Seite Mittel für den Bau zur Verfügung gestellt.

Da aber von russischer Seite keine weiteren Finanzierungshilfen bereit gestellt wurden, haben wir nun hier eine Neubauruine".

Tagebucheintrag 26.07.1997 (im häuslichen Bereich)

Auch in der Ortschaft Protasowo besuchen wir Menschen in ihren häuslichen Umgebung.

Haus in einer sehr ländlichen Region

Als erstes besuchen wir eine über 90jährige ältere Frau, die von ihrer etwas über 70jährigen Tochter betreut wird. Sehr freundlich werden wir ins Haus gebeten. An der Wand sehen wir überall gestickte Bilder mit Bibelmotiven. Auch eine deutsche Bibel liegt aufgeschlagen auf dem Tisch. Zum Pflegebedarf können wir hier feststellen, dass die Mutter noch, bis auf eine leichte Schwerhörigkeit und einer (dem Alter aber wohl durchaus entsprechenden) Bewegungseinschränkung recht mobil wirkt. Außer beim wöchentlichen Bad braucht sie keine weitere Hilfe.

Dafür erfahren wir einiges aus dem Leben dieser beiden Frauen.

Die Tochter erzählt uns von ihrem Leben, vom Leben der Familie und der Familiengeschichte.

Die Mutter sitzt dabei und gibt nur ab und zu einige Kommentare.

Nur ein paar Häuser weiter führt uns unser nächster Besuch. In dem Haus lebt ein Mann mit seiner Frau und den jeweiligen Müttern die pflegebedürftig sind. Weil aber auch seine Frau nicht in der Lage ist entsprechend zu helfen, muss die 26jährige Tochter den Haushalt und die 3 Frauen versorgen (von morgens 6:00/7:00 bis 23:00/24:00). Und das schon seit anderthalb Jahren. Sie tut uns richtig leid. Im Gespräch tritt vor allem aber die Frau des Mannes hervor. Sie lässt ihre Tochter und den Mann auch gar nicht zu Wort kommen - es redet nur eine über die schwere Situation. Die Tochter sieht älter aus - nun ja - ihr Schicksal in diesem Familienverbund ist wohl vorbestimmt.

Tagebucheintrag 28.07.1997 (im häuslichen Bereich)

Im Laufe des heutigen Tages werden wir Besuch aus Deutschland bekommen. Herr W. Schnepp (Pflegewissenschaftler, und selbst schon mehrmals in dieser Projektregion im Einsatz) kommt für knapp zwei Wochen als Betreuer und Mentor. Allerdings sind wir erst einmal nicht da, denn wir haben noch einmal eine Hospitation in Kljutschi. Dort fahren Margareta und ich getrennt mit Sozialhelferinnen in die häuslichen Betreuungsbereiche.

Eine typische Küche (hier mit Gasherd) ...

... und dazugehöriger Waschecke.

Eine Toilette gibt es nicht hier im Haus. Da die Bewohnerin aber nicht nach draußen alleine gehen kann, ...

... hat man ihr einen "Toilettenstuhl" kurzerhand selbst gebaut.

Am frühen Morgen kommt die "sozialnie rabotniki" zu ihr.

Sie hilft ihr beim Aufstehen, Waschen und beim Frühstück

Danach geht es in die Morgensonne vor das Haus.

Natürlich besuchen wir auch ältere Damen die zwar Hilfe von Sozialhelferinnen erhalten, aber nicht unbedingt im eigentlich pflegerischen Sinne. Eine von Ihnen werde ich wohl nie vergessen. Sie erhält bei der Bewirtschaftung ihres Gartens Unterstützung. Auch beim Einkochen und bei der Organisation von Brennmaterialien für den langen und kalten Winter wird sie unterstützt.

Nachdem sie uns den Gartenbereich gezeigt hat ...

... muss ich mir auf ihren Wunsch jeden ihrer Räume anschauen und vor allen Dingen die vielen selbst hergestellten Kleinigkeiten.

Ob Häkeldecken, gehäkelte Blumen, Teppiche - egal, alles muss sie mir zeigen.

Im letzten Zimmer schnappt sie plötzlich eine Balalaika von der Wand und beginnt zu spielen und zu singen. Außerdem kann sie mit ihren 80 Jahren einnehmend lachen / lächeln.


Ergebnisse der Analysephase

Aus den gut zwei Wochen dauernden Besuchen in den verschiedenen Betreuungsbereichen (von denen hier natürlich nur ein kleiner Ausschnitt dargestellt werden konnte), lassen sich folgende Ergebnisse zusammenfassend darstellen:

Die hier benannten Problembereiche führen zu einer Abnahme der informellen, familiengetragenen Pflege und Versorgung, immer mehr alte Menschen sind sich selbst überlassen. Auf diesen Versorgungsnotstand reagieren einerseits die Krankenhäuser, indem sie alte Menschen aufnehmen, was wiederum zu vielfältigen Problemen führt (lange Verweildauer, Finanzierungsproblematiken) und andererseits sollen alte, allein lebende Menschen durch "sozialnie rabotniki" in ihrer häuslichen Umgebung unterstützt werden. Letzteres scheint nicht immer effektiv zu sein. Als besonders problematisch wird das nicht verfügbare Pflegewissen beurteilt.

Pflegepraktische Problemzonen

Aus den Beobachtungen, den Hospitationen und den einzelnen Gesprächen mit Pflegenden konnten folgende pflegepraktische Problemzonen benannt werden:(ohne Gewichtung):

Seminar "Häusliche Versorgung und Altenpflege"

Auf Grundlage der beobachtbaren Problemfelder wurde nach Abstimmung mit Lehrkräften der Berufsschule PU-30 in Jarovoje ein Schulungscurriculum für ein 3-4 wöchiges, pflegespezifisches Seminar erarbeitet. Das Seminar fand in der Berufsschule "PU-30 in Jarovoje" statt. Die Zielgruppe waren praktisch tätige Sozialarbeiterinnen und Vertreterinnen der Sozialämter der Altai Region, die für den Einsatz von Sozialarbeiterinnen zuständig sind. Insgesamt nahmen 24 Personen an dem Seminar teil, davon vier Lehrerinnen der Berufsschule PU-30.

Seminaraufbau /-Ablauf

Für das Seminar bildeten sich zwei inhaltliche Themenschwerpunkte heraus. Einer der Schwerpunkte war die Herausarbeitung der Themenbereiche, die den Rahmen für die berufsmäßig ausgeführte Pflege bilden. Der zweite Schwerpunkt lag in Aufarbeitung von pflegerischen Konzepten/Grundlagen und der Vermittlung von pflegepraktischen Inhalten.

Den Einstieg in das Seminar bildete die Reflexion der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und deren spürbare Auswirkungen auf das Arbeitsfeld der Sozialarbeiterinnen. Da die berufliche Auseinandersetzung mit "Pflege" bisher eher ein Schattendasein führt (Stichwort: Grauzone), war es ein wichtiger Seminarinhalt, genau diese pflegerischen Tätigkeiten mit den Seminarteilnehmerinnen näher zu definieren und vor allen Dingen den Begriff "Pflege" als berufliches Handlungsfeld zu (er)klären.

Die Orientierung bei der Erarbeitung der pflegefachlichen Seminarinhalte erfolgte an dem bedürfnisorientierten Modell der Lebensaktivitäten in Verbindung mit dem Problemlösungsprozess, der auch von der WHO zur Beschreibung der berufsmäßig ausgeführten Pflege benutzt wird. Nachfolgend aufgeführt einige der Seminarthemen:

Für das Seminar konnte auf Räumlichkeiten der Berufsschule PU-30 zugegriffen werden. Im Vorfeld des Seminars wurde in Absprache mit der Schule ein kleiner, praktischer Demonstrationsraum eingerichtet.


Tagebucheintrag vom 12.08.1997 (Die erste Unterrichtseinheit)

Gegen kurz vor halb zehn kommen die ersten Seminarteilnehmerinnen. Pünktlich um halb zehn beginnt unser erster Unterricht. Als Einstieg wollen wir gemeinsam mit den Teilnehmerinnen die Entwicklung der letzten Jahre betrachten. Dazu haben wir vier Thesen formuliert. Ausgehend von der sich verändernden Staatsstruktur, über die dadurch stattfindenden Transitionsprozesse, die Auswirkungen die das wiederum auf das Gesundheits- und Sozialsystem hat bis schließlich die Ebene der pflegerischen Versorgung angesprochen wird. Nach einer kleinen Pause wird in vier Gruppen die Thematik der Veränderungsprozesse und deren Auswirkungen bearbeitet. Am Ende stellen die einzelnen Gruppen ihre Ausführungen zu den aufgestellten Thesen vor.

Tagebucheinträge vom 19./20.08.1997 (Lebensaktivität Bewegung)

Der heutige Seminartag macht allen viel Freude. Das liegt vor allem an den vielen praktischen Übungen im Demonstrationsraum. Die Teilnehmerinnen sind erstaunt, auf wie viele Arten man einen Menschen bewegen oder auch Lagern kann ...

... heute wird noch intensiver die praktische Übungsseite betont. Schwerpunkt bilden verschiedene Lagerungsarten, die zu einer Druckentlastung führen sollen. Die Seminarteilnehmerinnen machen sehr gut mit. Neben der 30° Grad Lagerung, der 135° Grad Lagerung wird auch die schiefe Ebene und die 5-Kissen Methode geschult. Alle Hilfsmittel stammen aus ganz normalen Haushalten. Dies soll die Adaption im jeweiligen Handlungsfeld für die Sozialarbeiterinnen erleichtern.

Tagebucheintrag vom 01.09.1997 (Seminarende in Sicht)

Zum Abschluss des Seminars gilt es für die Teilnehmerinnen noch eine "kleine" Prüfung zu bestehen. Uns gibt es die Möglichkeit zur Evaluation des Seminars und gleichzeitig lässt es Rückschlüsse auf den Lernerfolg zu. Nach einer kurzen Wiederholung (was haben wir in den letzten gut drei Wochen eigentlich alles für Themen bearbeitet) werden vier Gruppen zu je sechs Personen gebildet. Jede Gruppe bekommt ein bestimmtes Thema zugelost. Folgende Themenkomplexe standen zur Wahl:

Natürlich sollen die jeweiligen Gruppen auch praktische Übungen mit in die Präsentationen einbauen. Wir sind auf die Ergebnisse sehr gespannt. Die Gruppen haben den heutigen Nachmittag und den morgigen Vormittag Zeit, um ihre jeweiligen Präsentationen vorzubereiten. Während der Bearbeitungsphase stehen wir den Gruppen für Verständnisfragen zur Verfügung. Morgen um 12:45 Uhr müssen sie alle Folien und vorbereitete Flip-Charts abgeben, danach werden die Gruppen für die Reihenfolge der Präsentationen ausgelost. Für jede Präsentation steht dann der einzelnen Gruppe maximal eine Stunde zur Verfügung.

Seminarteilnehmerinnen bei der Gruppenarbeit zur Vorbereitung auf die Prüfungsaufgaben ...

... und beim Einüben praktischer Prüfungsanteile im Demonstrationsraum.

Zum Abschluss des Seminars wurde gemeinsam mit den Teilnehmerinnen eine Auswertung durchgeführt. Dabei wurde von den Teilnehmerinnen klar benannt, dass im bisherigen Ausbildungscurriculum der "sozialnie rabotniki" keine pflegespezifischen Inhalte zu finden sind. Dieser Umstand wird als problematisch gesehen, da im Praxisfeld vermehrt ältere Menschen mit einem erhöhtem Pflege-/Betreuungsbedarf vorzufinden sind. Die veränderten Anforderungen an die berufliche Tätigkeit der Sozialarbeiterinnen machen daher die Überarbeitung des vorhandenen Curriculums in Bezug auf die pflegerischen Ausbildungsinhalte notwendig.

Die Teilnehmerinnen konnten aus den für sie ausgewählten Seminarinhalten viele praxisrelevante Bezüge zu ihren jeweiligen Handlungsfeldern entdecken. Sie empfehlen die Integration dieser pflegerischen Inhalte in die bisherige Ausbildung. Kurzfristig wird daher der Aufbau eines Faches "Altenpflege" in den vorhandenen Ausbildungsplan empfohlen. Der Stundenumfang sollte in Bezug auf den jetzigen Ausbildungsumfang in einer Größenordnung von 120 bis 150 Unterrichtsstunden liegen. Eine Grundlage für die inhaltliche Ausgestaltung könnten die im Seminar vermittelten pflegerischen Themenschwerpunkte bilden, da aufgrund der Rückmeldung der Teilnehmerinnen genau diese Seminarinhalte die hauptsächlichen Problembereiche der täglichen Arbeit wiederspiegelten. Um einen Transfer in die jeweiligen Praxisfelder zu ermöglichen, sollte darüber nachgedacht werden, eine fachpraktische Betreuung während der Einsätze der Auszubildenden in den Veteranenhäusern und häuslichen Bereichen aufzubauen.

Den Teilnehmerinnen und den beteiligten Lehrkräften der Berufsschule PU-30 wurde aber auch klar, dass dafür allerdings aus den anderen Fächerbereichen Stunden verlagert werden müssten. Vorschläge hierzu wurden von den Seminarteilnehmerinnen zusammen mit den Lehrkräften der PU-30 erarbeitet.


Zu guter Letzt

Neben der eigentlichen Arbeit in so einem Projekt nimmt der einzelne Beteiligte viele, oftmals sehr persönliche Eindrücke mit. Mich hat neben der fremd anmutenden Steppenlandschaft vor allem das Leben und der Umgang der Menschen miteinander tief beeindruckt. Trotz vieler, den Alltag prägender negativer Lebensumstände (hohe Arbeitslosigkeit, oftmals monatelang keine Gehaltszahlungen, widriges Klima - lange Käteperioden, schlechte Infrastruktur) wurde dem Leben sehr viel positives beigemessen. Ich bin selten als Fremder so warmherzig und freundlich aufgenommen worden. Dabei gilt mein besonderer Dank den LehrerInnen der Berufsschule PU-30, den Übersetzerinnen (ohne die die Durchführung aller genannten Projektaktivitäten nie hätte so intensiv stattfinden können), den Seminarteilnehmerinnen und nicht zuletzt aller anderen Personen, die uns im Rahmen der Ist-Analyse Rede und Antwort gestanden und mit uns offen diskutiert haben.

Projektteilnehmerin M. Halek und die für uns unersetzlichen Übersetzerinnen Mascha (li.) und Natascha (re.) beim gemeinsamen Mittagessen.

Sonnenuntergang über der Kulunda Steppe

Nachtrag

Sechs Monate später durften wir zu einem weiteren Schulungsprojekt in die Berufsschule PU-30 nach Jarovoje reisen.

(1) Am ehesten zu vergleichen mit Landkreisen

(2) nicht zu vergleichen mit SozialarbeiterInnen in der Bundesrepublik, eher vergleichbar mit Dorfhelferinnen